Können sogar Kotzbrocken von Parasiten gegen die erschreckende Zunahme bestimmter Autoimmunkrankheiten in den Industrieländern etwas ausrichten?
Faustdicke Überraschung: Die moderne Medizin fand jüngst heraus, dass diese Ekelpakete im menschlichen Darm künftige Hoffnungsträger im Kampf gegen Autoimmunkrankheiten sein können. In der Tat belegen weltweite Untersuchungen, dass bei uns zwar parasitäre Plagen weitgehend ausgerottet sind – dank übertriebener Hygiene – , aber dafür Allergien und Autoimmunkrankheiten wie Heuschnupfen, Asthma, Multiple Sklerose und Morbus Crohn erschreckend zunehmen.
Dagegen treten in den von Parasiten wimmelnden Entwicklungsländern Autoimmunkrankheiten kaum auf. Da heißt es umzudenken. Bisher haben wir Keime und Parasiten verteufelt und sie aus unserem Körper verbannt. Unsere Abwehrkräfte schwanden in dem Maße, wie wir die „Wohltaten“ der Pharmagötter nutzten und zudem durch überzogene Hygiene unsere körperlichen Abwehrkräfte schwächten. Der von uns „krank gesäuberte“ Körper wendet sich gegen sich selbst – ohne seine natürlichen Feinde.
Parasiten – das Erfolgsmodell der Evolution
Nein, sie sind mitnichten primitive Lebewesen, die zum Überleben und Fortpflanzen höhere und größere Lebewesen als Wirt aufsuchen müssen – und das bei freier Kost und Logie. Als geniale Kenner des Immunsystems lernten die ungebetenen Gäste im Laufe der Evolution die Hausordnung, – das Immunsystem – ihrer Wirte mit zu „gestalten“. Parasitismus ist also eine äußerst erfolgreiche Lebensform. Man schätzt, dass fast die Hälfte aller Lebewesen auf der Erde Parasiten sind. Dagegen nimmt sich das wandelnde Biotop Mensch in seiner Anzahl recht bescheiden aus, zählt man im übertragenen Sinne das Habgier-Schmarozertum nicht dazu. Die wichtige Frage die sich uns stellt, ist: Können Parasiten eine überschießende Immunabwehr wirklich besänftigen?
Die verborgenen Herrscher im Untergrund sind Meister der Manipulation; sie haben das evolutionäre Handwerk zur perfiden Perfektion gebracht. Mit Minihaken, Saugnäpfen und Bohrköpfen kapern sie die Maschinchen, die andere Gene gebaut haben, und manipulieren sie vortrefflich. Einige haben diese Kunst auf die Spitze getrieben: Sie machen ihre Wirte gar zu Zombies.
Um von der eigenen körperlichen Betroffenheit abzulenken, schauen wir uns zunächst nach Beispielen in der Natur um.
Parasiten in freier Natur außerhalb unseres Körpers
Der Raupenpilz Cordyceps (griech. kordyle für Keule; lat. ceps für Kopf) nistet als Parasit im Körper einer Raupe und frisst diese genüsslich von innen langsam auf. Vor der Regenzeit befallen Pilzsporen die Raupen. Aus einer Spore entwickelt sich ein neuer Pilz im Inneren der Raupe. Als Parasit bezieht der heranwachsende Raupenpilz im Hochplateau des Himalaya seine gesamte Energie aus dem Raupen-Gewebe der Fledermausmotte Hepialus armoricans. Er gewinnt die Kontrolle über den Bewegungsapparat der Raupe und dirigiert sie unter die Erdoberfläche. Im Winter zersetzt der Pilz alle inneren Organe der Raupe durch sein Wurzelgeflecht, dem Myzel. Steigen im Frühjahr die Temperatur an, sprießt aus dem Kopf des Raupen-Zombies der keulenförmige Teil des Pilzes (s. Bericht „Pilz-Viagra aus dem Himalaya: teurer als Gold“), der die Erdoberfläche durchbricht. Übriges ist dieser Heilpilz auf dem Dach der Welt eine überragende Nahrungsergänzung.
Äußerlich angewendet: die wiederentdeckte Madentherapie
Antibiotika verdrängten von 1940 an Substanzen wie Kolloidales Silber und auch die Madentherapie. Erst zunehmend beobachtete Resistenzen und die Misserfolge beim Behandeln chronischer Wunden führte vor rund zwanzig Jahren zu einer Renaissance der guten alte Made.
Diese Larven der Schmeißfliegengattungen Lucilia und Calliphora sind Helfer bei chronischen Geschwüren und komplizierten Wunden in aller höchster Not. Vor allem Diabetiker, aber auch Patienten mit Brand- und Operationswunden profitieren von den reinigenden Kräften der wuselnden Geister. Maden reinigen Wunden schnell, gezielt und gründlich. Sogar Krankenhauskeime wie multiresistente Staphylokokken beseitigen sie, die gegen alle Antibiotika unempfindlich sind. Dabei gehen Maden mit ihren sensiblen Freßwerkzeugen gezielter vor als ein geschickter Mikrochirurg, denn sie unterscheiden beim Fressen gesundes Gewebe – das sie nicht wegraspeln – von schwärendem oder nekrotischem Gewebe (s. Bericht: „Fliegenmaden – die genialen Mikrochirurgen“).
Weitere Beispiele aus der Natur
So lebt das Bakterium Escherichia Coli im Darm von Säugetieren eher in Symbiose. Es hilft bei der Verdauung und erhält im Gegenzug Nahrung.
Ein Beispiel aus der Pflanzenwelt: Zwar können die Blätter der Mistel Photosynthese betreiben; sie enthalten also Chlorophyll. Die Versorgung mit Kohlenhydraten ist gesichert, indes entzieht die Mistel dem Wirtsbaum Wasser und Mineralstoffe. Die Mistel ist ein heilsamer Halbparasit. Viele Krebspatienten sehen nämlich in der Misteltherapie ein bewährtes Behandlungsverfahren. Unter Ärzten und Krebsforschern gibt es da widersprüchliche Meinungen.
Der Parasiten-Zoo
Man unterscheidet Mikro- und Makroparasiten. Zu den Mikroparasiten zählen Viren, Bakterien und Protozoen, also Einzeller. Makroparasiten sind Vielzeller wie etwa die Plattwürmer und Fadenwürmer.
Protozoen sind Amöben, die schwere Durchfallerkrankungen auslösen können. Der Leberegel gehört zur Gruppe der Saugwürmer Trematoda und bevorzugt das Verdauungssystem und die Leber. Es kommt aber auch zu schrecklichen Fällen, in denen Protozoen lebensgefährlich ins Herz oder Gehirn eindringen.
Die Weltgesundheitsorganisation stuft Parasiten als eine der sechs gefährlichsten Ursachen menschlicher Krankheiten ein. Sie sind vor allem verantwortlich für viele Magen-Darm-Erkrankungen und verursachen sogar Krebs.
Die ungebetenen Gäste bohren sich unter die Haut, schwelgen im Darm oder nisten sich in andere Organe ein. Über Tausend verschiedene Parasiten können den Menschen heimsuchen. Als Totengräber lösen sie Infektionen aus und sind führend in der weltweiten Statistik aller Todesursachen. Ganz oben steht der parasitäre Einzeller der Gattung Plasmodium. Dieser Bösewicht verursacht Malaria, die häufigste Parasiten-Erkrankung in den Tropen, dazu gehört ebenso die Schlafkrankheit oder die durch den Pärchenegel Schistosoma – eine 1 bis 2 cm lange Saugwurmgattung – hervorgerufene Bilharziose. Über eine Million Menschen sterben jedes Jahr daran.
Vom Parasiten-Saulus zum Paulus
Viele Wirte haben es gelernt mit verschiedenen Parasiten zu leben und nehmen keinen Schaden. Einige diese Mitbewohner gehören wie selbstverständlich zum Verdauungsinventar. Gemeint sind zahllose Darmbakterien. Diese erfüllen mittlerweile sogar eine lebensnotwendige Funktion, denn sie produzieren verschiedene Nährstoffe, die sie erst für den Wirt erschließen. Hier führt das ursprüngliche Parasitentum zu einem für beide Seiten vorteilhaften Zusammenleben: einer Symbiose par exelans.
Es gibt aber durchaus Würmer, die für den Menschen lebensbedrohlich sein können, wie den Fuchsbandwurm, denn er durchwuchert von innen die Leber. Paradox: Das Erfolgsrezept der Würmer ist, dass sie bestimmte Immunantworten ausschalten. Und das sind zufällig die gleichen Immunantworten, die auch bei Allergien eine Rolle spielen. Die polyglotten Parasiten verstehen eben die Fremdsprache des körpereigenen Immunsystems. Eine Infektion mit einem Fuchsbandwurm ist äußerst problematisch, auch wenn sie nur etwa 50 Mal pro Jahr in Deutschland vorkommt. Unbehandelt führt sie bei 9 von 10 Infizierten zum Tod. Deshalb sei angeraten, Waldbeeren vor dem Verzehr gründlich zu waschen. Das gleiche gilt für frischen Salat und Gemüse, die wir zu Smoothies verarbeiten.
Parasiten können Autoimmunerkrankungen verhindern
Im Zusammenleben der Würmer mit dem Immunsystem des Menschen hat sich im Laufe der Evolution eine ausgeklügelte Zellkommunikation entwickelt. Erst wenn das Antigen ein zweites Mal den Körper bedroht, kommt es zur allergischen Reaktion. Dann wehrt sich der Körper verstärkt und gibt Stoffe frei, die zum Beispiel Juckreiz, Hautausschlag und Atembeschwerden auslösen. Bewirtet der Mensch Darmparasiten, dann sorgt der Parasit dafür, dass so genannte T-Zellen aktiviert werden. Diese Lymphozyten, so mutmaßen Mediziner, können die Entstehung von Allergien unterdrücken. Vielleicht versetzen die Würmer im Darm das menschliche Immunsystem in eine Art Alarmbereitschaft. Dadurch wird das Immunsystem von den Allergie auslösenden Substanzen abgelenkt.
Schweinepeitschenwürmer gegen Morbus Crohn
Gibt es einen Parasiten, der das Immunsystem des Menschen positiv beeinflusst, ohne seine Gesundheit zu gefährden: Ist es der Schweinepeitschenwurm Trichuris suis ? Seit 2004 testeten US-Forscher diesen Schweine-liebenden Kandidaten an Menschen, die unter chronischer Darmentzündung Morbus Crohn leiden. Sie bewirkt, dass die Zellen des Immunsystems den eigenen Körper attackieren. Die Patienten leiden unter starkem Durchfall, Krämpfen und Mangelerscheinungen. Offenbar können Schweinepeitschenwürmer etwas gegen diese Symptome ausrichten. Auch bei Multipler Sklerose, Rheumatoider Arthritis und bei Menschen mit Autismus kann der Schweinepeitschenwurm möglicherweise helfen. Ob die Wurmtherapie hier tatsächlich helfen kann, ist noch unklar.
Hakenwürmer gegen Multiple-Sklerose
Am Neurologischen Forschungsinstitut in Buenos Aires berichteten die Wissenschaftler über den langjährigen Krankheitsverlauf von 24 Multiple-Sklerose-Patienten. Zwölf Erkrankte hatten Parasiten im Körper, die andere Hälfte war parasitenfrei. Das verblüffende Ergebnis: Der Krankheitsverlauf der mit Würmern infizierten Patienten verlief deutlich abgeschwächt. In ihrem Blut fanden sich vermehrt Botenstoffe, die die entzündungsfördernden Zytokine unschädlich machten. Das sind Proteine, die Wachstum und Differenzierung von Zellen regulieren. Und genau hier vermutet man die heilsame Wirkung der Darmschmarotzer: Damit die Fadenwürmer keine unangenehmen Überraschungen erleben, beruhigen sie das Immunsystem des Wirtskörpers. Dazu aktivieren sie bestimmte Immunzellen, die T-Lymphozyten; die regulieren die Immunantworten des Körpers und verhindern eine aggressive Immunantwort.
Anscheinend retten die Fadenwürmer damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Nervenzellen ihres Wirts vor einem Angriff des Immunsystems. Wie sie das genau anstellen, ist den Forschern immer noch ein Rätsel. Dennoch scheint inzwischen zumindest eines klar: Das gängige Feindbild von den häßlichen Schmarotzern muss überprüft werden.
Ob wissenschaftlich begründet oder nicht, ein stark Allergiegeplagter klammert sich an jeden Strohhalm. Schauen Sie nur ins Internet. In Foren tauschen sich die Geplagten über die wirksamsten Parasiten aus und berichten über ihre wundersame Heilung durch Hakenwurm-Infektionen. Forscher warnen aber mit Recht vor einem leichtfertigen Umgang mit Parasiten, denn sie entziehen ihren Opfern Nährstoffe, führen zu Blutarmut, und manche bringen sogar ihren Wirt um.
Parasit Toxoplasma gondii, ein zwielichtiger Gesell
Ein genaues Verständnis dieser Mechanismen könnte der Grundstein für die Forscher sein. Besonderes Augenmerk gilt dabei seit kurzem dem Parasiten Toxoplasma gondii. Der Schmarotzer, der sich im Kot von Katzen findet, ist Erreger der vor allem für schwangere Frauen gefährlichen Krankheit Toxoplasmose.
Indes scheint der Parasit auch ein natürliches Heilmittel bei Krebs zu sein. Das konnten Forscher in Hannover kürzlich eindrucksvoll mit einer Studie belegen. Mithilfe einer speziell modifizierten Variante ließ sich das Immunsystem so manipulieren, dass es vermehrt Antikörper produzierte, die dem Krebs entgegenwirken. Die natürliche Immunabwehr wurde so verändert, dass sogar Krebszellen im Körper ihren Geist aufgaben.
Oh Graus, wie lecker: ein Wurmpräparat zum Trinken
Seit Jahren forscht man an neuartigen und erfolgversprechenden Wurmtherapien. Inzwischen gibt es das Präparat TSO (Trichuris Suis Ova), gewonnen aus den Eiern des Schweine-Peitschenwurms Trichuris suis. Als einziges Land hat bislang Thailand das Wurmpräparat zugelassen. Dort gilt es als Naturheilmittel.
Große Erfolge erzielt das Präparat bei der Behandlung von Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa, Multipler Sklerose, Nahrungsmittelallergien, Rheumatoider Arthritis und Verhaltensstörungen bei Autismus. Die gemeinsame Crux dieser Erkrankungen ist eine Fehlleitung des Immunsystems. Das führt zu Reaktionen gegen harmlose Umweltstoffe (Allergie) bzw. gegen eigene Organe und Zellstrukturen (Autoimmunerkrankungen).
Es scheint, dass wir unsere Hassliebe gegenüber den Parasiten überdenken müssen. Unsere argen Mitbewohner haben auch eine nützliche Seite. Der Einsatz von Immunmodulatoren wie TSO soll das Immunsystem so „umerziehen“, dass Toleranzreaktionen gegen diese Antigene entstehen, statt schädliche Immunreaktionen – dank der „Parasiten-Dompteuere“. Fatal für die Pharmariesen wäre es, wenn sich herausstellt, dass die konkurrierende TSO-Therapie ihre unzähligen teuren Medikamente in den Schatten stellt.
© Hans-Jörg Müllenmeister