Wir sind schon wieder Zeitgenossen einer Bruchstelle der Geschichte. Die zweite Hälfte des 20. Jh. war eine beispiellose Konfrontation zwischen zwei hochgerüsteten Mächten. Den Vereinigten Staaten und Rußland. Um diese beiden Riesen herum gab es nur politische und militärische Zwerge. China laborierte am „Großen Sprung“ und an der Kulturrevolution, Großbritannien und Frankreich waren durch sozialistische Experimente und die Entkolonialisierung zu Schatten ihrer selbst geworden und der Rest der Welt richtete sich nach den Magneten in Moskau und Washington aus.
1990 wurde das Ende der Geschichte proklamiert, was eine dümmliche Fehleinschätzung war. Denn gerade seit dieser Zeit ist eine multipolare Welt mit viel Aufregung entstanden. China hat wirtschaftlich und militärisch aufgeschlossen und Moskau bereits den Rang abgelaufen. Rußland ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion – also der Abspaltung der kräfteabsorbierenden moslemischen und lateinischen Reichsteile – wieder erstarkt. Die moslemische Welt selbst ist durch jahrzehntelange Erdölverkäufe zu einem Machtfaktor geworden. Wenn auch zu einem mehr terroristischen als staatlichen.
Die Globalisten in Amerika und Europa hatten jahrzehntelang das Dogma der Bekehrung der Dritten Welt zur Demokratie gepredigt und gottlob nur sporadisch versucht es in die Tat umzusetzen. Spiegelbildlich versuchte Rußland stalinistische Satelliten auf die Moskauer Umlaufbahn zu bringen. Vietnam, Afghanistan, Somalia, der Irak, Libyen und Syrien sind die Schlachtfelder um die Errichtung der Demokratie bzw. des Stalinismus in traditionellen asiatischen Despotien. Sowohl Moskau wie auch Washington, London und Paris haben sich die Zähne an relativ kleinen und armen Ländern ausgebissen. Der letzte westliche Teilerfolg liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück: Korea. Der letzte russische Sieg ist noch fragiler: Tschetschenien.
Und nun hat Donald Trump die naive Idee der Bekehrung der ganzen Welt zur Demokratie zur Disposition gestellt. „America first“ bedeutet einen Rückzug auf sich selbst, das was Analytiker seit Jahrzehnten als amerikanischen „Isolationismus“ haben heraufziehen sehen. Auch in Europa wurde die Demokratisierung und Missionierung der Welt zunehmend in Frage gestellt. Premierministerin Theresa May hat gestern in Washington klar formuliert: „Die Tage, in denen Britannien und Amerika in souveränen Staaten intervenieren, um die Welt nach unserem Bild zu formen, sind vorüber.“ Ein knackiger Seitenhieb auf George W. Bush, Barack Obama, Tony Blair und Gordon Brown, die im Irak, in Libyen und Afghanistan interveniert hatten bzw. den „Arabischen Frühling“ angefeuert hatten.
Kaum eine sogenannte „rechtspopulistische“ Partei, die nicht auch das Ende außenpolitischer Kriegsspiele und ideologischer Bekehrungsversuche forderte. Die AfD beispielsweise sieht den „Arabischen Frühling“ ausgesprochen kritisch und ist eher geneigt Afrika und Asien den eigenen Entwicklungsgesetzen zu überlassen. Es wird seitens der „Qualitätsmedien“ oft behauptet, daß die europäischen und amerikanischen Rechtspopulisten untereinander zerstritten wären. Aber in dieser alles entscheidenden Frage von weltpolitischer Bedeutung sind sie sich völlig einig. Da stehen Donald Trump, Theresa May, Marine Le Pen, Beppe Grillo, Geert Wilders, HC Strache und das Duo Petry-Meuthen wie ein Mann zusammen.
Es machen derzeit Vermutungen die Runde, daß sich die Vereinigten Staaten und Rußland annähern könnten, um die schnell wachsende Macht Chinas auszugleichen. Ein Machtspiel wie zur Zeit der Ping-Pong-Diplomatie, als Amerika und China ab 1972 zusammenrückten, um Rußland in die Zange zu nehmen. Vorausgegangen war 1969 das Gefecht am Grenzfluß Ussuri zwischen russischen und chinesischen Vorposten.
China scheint die mögliche Umklammerung zu ahnen und trifft erste Vorkehrungen, um ihr zu entgehen oder zumindest die Machtarchitektur zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Auf dem Wichtigtuertreffen einiger Wirtschaftsführer in Davos erschien der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping und warnte vor Handelshemmnissen. „Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft“, sagte er und warb für den Freihandel. Nun, er wäre wirklich der größte, vielleicht der einzige wirkliche Verlierer von Schutzzöllen.
„Merkel sucht bei Handelspolitik Schulterschluss mit China“, titelte Finanzen.net gestern, „China will Deutschland als Stabilitätsanker“, überschrieb die FAZ ihren Eintrag, der sich auf ein freundliches Telefonat zwischen dem chinesischen Parteichef und Merkel bezog. Bei Finanzen.net wackelt der Schwanz mit dem Hund, in der FAZ der Hund mit dem Schwanz. Der Schwanz ist Deutschland, bzw. die Rest-EU ohne das Vereinigte Königreich.
Der scheidende Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hatte kürzlich dafür geworben, den Protektionismus von Trump mit der stärkeren Hinwendung Deutschlands und Europas nach Asien zu kontern und erwähnte ausdrücklich China und Indien. Ähnlich äußerte sich der CDU-Wirtschaftspolitiker Michael Fuchs.
Bereits in den 50er Jahren, in der Kinderzeit von Angela Merkel, gab es schon einmal die Deutsch-Chinesische Freundschaft. 1951 gab die Deutsche Post eine 12-, eine 24- und eine 50-Pfennig Briefmarke mit diesem Thema heraus. Der heutige Juri-Gagarin-Ring in Erfurt hieß immerhin noch bis 1964 Mao-Tse-Tung-Ring. Kein Schullesebuch der damaligen Zeit ohne ein Revolutionsmärchen vom Jang-Tse.
Eine Anlehnung Deutschlands an China ist durchaus bedenkenswert. Sowohl China als auch Deutschland haben riesige Exportüberschüsse und deswegen ähnliche Interessen im Welthandel. Dabei muß man allerdings bedenken, daß Deutschlands Überschüsse sinken würden, wenn der Euro scheitert. Denn eine nationale deutsche Währung würde solange aufwerten, bis die Überschüsse Geschichte sind. Weiterhin darf nicht ganz vom Radar verschwinden, daß China ungleich weniger Geld für Soziales und Umwelt ausgibt und ein Wettbewerb daher immer verzerrt und für entwickelte Sozialstaaten sehr nachteilig ist.
Frankreich, Italien und Spanien haben wegen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit eher protektionistische Interessen. Das Interesse an China als Handelspartner ist dort etwas weniger lebhaft. Andererseits ist die mögliche chinesische Allianz kein politischer Sprengsatz in der Ost-West-Ausdehnung Europas. China ist solange sich Rußland militärisch und territorial behaupten kann, weit genug von Europa weg um es zu kolonialisieren oder zu besetzen und deshalb als Partner sowohl in Paris wie in Warschau prinzipiell vermittelbar. Europa hält man mehr mit einem transatlantischen oder chinesischen Bündnis zusammen, als mit einer Annäherung an Rußland.
Ein Umstand spricht allerdings gegen China als Rettungsanker. Es ist kein ökonomisches Manko, sondern ein politisches. Nein, es handelt sich nicht schon wieder um Dr. Merkels „Menschenrechte“, sondern um die Instabilität Chinas als solche. Während sich die Geschichte des Vereinigten Königreichs seit der Entmachtung Karl I. 1649 wie ein träger Strom durch die Zeit ergoß, während die Vereinigten Staaten seit dem Bürgerkrieg von 1865 keine wirkliche innere Erschütterung mehr erlebt haben, ist China erst seit dreißig Jahren einigermaßen zur Ruhe gekommen. Eine nicht enden wollende Abfolge von Kriegen, Aufständen, Revolutionen und politischen Kampagnen hatten das Land mehrfach an den Rand des Abgrunds gebracht.
Zwei ungerechte Opium-Kriege 1839 bis 1860, die interessanterweise unter dem Banner des Freihandels geführt wurden, eine nicht abreißende Folge von Aufständen, der bekannteste der „Boxeraufstand“ 1900, das Ende der Monarchie 1911, wieder zahllose Aufstände, die Eroberung der Mandschurei durch Japan, der Weltkrieg, der „Lange Marsch“ und Maos Revolution. Es folgte eine endlose Kette nutzloser Kampagnen: „Hundert Blumen“, Großer Sprung“ und zehn Jahre Kulturrevolution. Erst seit dem 12. Parteitag 1982 kann man von einer wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung Chinas sprechen. Seitdem wird erfolgreich eine Exportindustrie entwickelt und die Armee aufgerüstet. Die Vereinigten Staaten und Rußland sind verunsichert bis verärgert.
Bis China zu einem Bündnispartner oder gar zu einem Pfeiler europäischer Verteidigung werden kann, muß mehr Zeit vergehen, in der China seine außenpolitische Berechenbarkeit beweisen, wirtschaftliche Stabilität bewahren und seine sozialen Standards an die der entwickelten Länder etwas angleichen kann. Ein Menschenalter Stabilität ist das Mindeste, was der Partner Chinas erwarten darf. Gerade Deutschland, das 1618 bis 1648, 1682 bis 1684, 1800 bis 1815 und 1945 bis 1989 immer wieder Objekt ausländischer Übergriffe war, und 1914 bis 1945 selbst angriff, ist durch seine Lage mitten in Europa ein Staat, der auf die politische Stabilität seiner militärischen und wirtschaftlichen Partner existenziell angewiesen ist. Ein angedachtes Bündnis mit China ist derzeit ein Verzweiflungsakt oder eine interessante Idee, aber mehr noch nicht.
Ob eine reformierte Auflage der derzeit „obsoleten“ NATO oder ein langfristig angelegtes europäisches Bündnis mit den Kernländern Frankreich und Deutschland die auf absehbare Zeit bessere Lösung ist, alles das muß sich jetzt bald entscheiden. Die Präsidentenwahl in Frankreich und die Abservierung Merkels nach der Bundestagswahl sind wohl entscheidende Meilensteine, die über die Option entscheiden. Und das europäische Bündnis ist nur ohne den Euro machbar, weil der Euro der Spaltpilz Europas ist. Militärische und wirtschaftliche Bündnisse müssen relativ langfristig angelegt werden, weil ihre Umsetzung sehr zeitaufwändig ist.
Zum Schluß ein Blick in den Rückspiegel: China hatte eine erfolglose Dependence in Europa. Das war 1961 bis 1977 die Volksrepublik Albanien. 2.000 chinesische Berater „halfen“ den „Klassenbrüdern“ in Tirana. Nachdem sich China der Welt wieder öffnete und die Viererbande abgesägt wurde, gerade als China ökonomisch interessant wurde, hatte Albanien kein Interesse mehr an der Zusammenarbeit und komplimentierte die Chinesen hinaus. Die vornehme Damengesellschaft Tiranas flaniert bei gutem Wetter noch heute mit Papiersonnenschirmen chinesischer Bauart durch die Stadt. Das ist das einzige, was die Zeit überdauert hat.